Weltthe
atertag 2020

Statement zum Welttheatertag 2020: Joachim Lux

Botschaft zum Welttheatertag 2020: Shahid Nadeem

 

Derzeit wird durch eine beispiellose Menschheits-Katastrophe vielen Künstlern auf der ganzen Welt die Existenzgrundlage entzogen. Sie war ohnehin prekär und ist jetzt noch prekärer. 

 

Trotzdem sollten wir mutig und zuversichtlich bleiben. 

 

Unsere Kraft ist das Erzählen von Geschichten. Geschichten von Menschen, Geschichten von großen Ereignissen, die die Menschheit als Ganzes betreffen, ja: die ganze Weltgemeinschaft. Irgendwann in der Zukunft ist - hoffentlich - das Corona-Virus selbst Geschichte. Und kann zu einer Geschichte werden, die erst durch Künstler zu einer erzählbaren Geschichte wird.

Das ist unsere Kraft. Die Kunst hat die Kraft, den Menschen die Freiheit zurückzugeben, die zwischendurch verloren schien. Im Würgegriff des Virus hat die Weltgemeinschaft ihre Freiheit verloren.  

Aber: Durch die Künstler können wir sie irgendwann zurückgewinnen - das ist eine wichtige Qualität von Kunst. Erzählen schafft Freiheit, ermöglicht Abstand und Distanz, und ermöglicht im besten Fall sogar, über das vergangene Grauen  zu lachen.  Ich wünsche uns allen dieses Lachen. 

Und ich bin sicher, dass das kommt. Im 14. Jahrhundert gab es in Europa eine große Pestepidemie. Damals begaben sich einige Menschen in Italien in ein Landhaus außerhalb der Stadt Florenz. In dieser  Selbstquarantäne  erzählten sie sich trotz Massensterbens nächtelang Geschichten - vor allem frivole Geschichten. Mit ihnen schaffte Giovanni Boccaccio  Distanz zum Tod. Sein Werk „Decamerone“ ist seitdem Weltliteratur, entstanden durch die Pest in Italien. 

 

Kunst und Theater werden überleben: durch die Kraft Geschichten zu erzählen.

 

 

Joachim Lux

 

 

 

Botschaft zum Welttheatertag 2020

 

Shahid Nadeem

 

Theater als Schrein

Es ist eine große Ehre für mich, die Botschaft zum Welttheatertag 2020 zu schreiben. Beinah wird man demütig, dennoch ist es aufregend, dass das pakistanische Theater und Pakistan selbst vom ITI, dem einflussreichsten und repräsentativsten Theaterverband der Welt, anerkannt wurde. Diese Ehre ist auch ein Tribut an Madeeha Gauhar (1), Theaterikone und Gründerin des Ajoka-Theaters, außerdem meine Lebenspartnerin, die vor zwei Jahren verstarb. Das Ajoka-Ensemble hat einen langen, schwierigen Weg buchstäblich von der Straße zum Theater hinter sich. Aber gewiss geht es vielen Theaterensembles nicht anders. Nie ist es einfach, die See nie glatt. Es ist immer ein Kampf.

Ich stamme aus einem überwiegend muslimischen Land, das mehrere Militärdiktaturen, Anschläge religiöser Extremisten sowie drei Kriege mit dem Nachbarn Indien erlebt hat, mit dem wir eine Jahrtausende lange Geschichte und Kultur teilen. Heute leben wir in Angst vor dem Ausbruch eines Krieges mit unserm benachbarten Zwilling oder sogar eines Atomkriegs, da inzwischen beide Staaten über Nuklearwaffen verfügen.

Manchmal sagen wir scherzhaft: „In schlechten Zeiten geht es dem Theater gut.“ Es mangelt nicht an zu bewältigenden Herausforderungen, aufzudeckenden Widersprüchen und zu unterwandernden Zuständen. Meine Theatergruppe Ajoka und ich balancieren seit 36 Jahren auf diesem schmalen Grat. Und schmal war der Grat allerdings: das Gleichgewicht zu halten zwischen Unterhaltung und Bildung, zwischen Suche nach und Lernen aus der Vergangenheit und Vorbereitung auf die Zukunft, zwischen freiem kreativem Ausdruck und abenteuerlichen Konfrontationen mit der Obrigkeit, zwischen sozialkritischem und finanziell machbarem Theater, zwischen Breitentauglichkeit und Avantgarde.

Als Theatermacher*in, könnte man sagen, muss man tricksen und zaubern können.

In Pakistan werden Heiliges und Weltliches klar getrennt. Im Bereich des Weltlichen haben religiöse Fragen keinen Platz, während im Heiligen keine Möglichkeit für offene Debatten oder neue Ideen besteht. Die konservative Elite betrachtet Kunst und Kultur für ihre „heiligen Spiele“ sogar als unzulässig. Für darstellende Künstler*innen ist das Spielfeld also ein Hindernislauf. Zunächst müssen sie nachweisen, dass sie gute Muslime bzw. Muslimas und brave Bürger*innen sind, dann müssen sie aushandeln, dass Tanz, Musik und Theater im Islam „erlaubt“ sind. Viele gläubige Muslime zögern daher, die darstellenden Künste zuzulassen, auch wenn Tanz, Musik und Theater fester Bestandteil ihres täglichen Lebens sind. Und dann sind wir an eine Subkultur geraten, die das Heilige und das Profane möglicherweise auf dieselbe Bühne bringen konnte.

Ajoka wurde in den 1980er Jahren während der Militärherrschaft in Pakistan von einer Gruppe junger Künstler*innen gegründet, die die Diktatur mit sozial und politisch kühnem Dissidententheater herausforderten. Ihre Gefühle, die Wut, ihr Leidfanden sie auf überraschende Weise von einem Sufi-Barden (2), der etwa 300 Jahre früher lebte, in Worte gefasst. Es handelte sich um den großen Sufi-Dichter Bulleh Shah (3). Ajoka erkannte, dass es mithilfe seiner Dichtung Aussagen von politischer Sprengkraft treffen konnte, die die korrupte politische Obrigkeit und die heuchlerische religiöse Elite empfindlich trafen. Die Obrigkeit konnte zwar uns verbieten oder verbannen, nicht aber einen so verehrten und beliebten Sufi-Dichter wie Bulleh Shah. Wir fanden heraus, dass sein Leben ebenso dramatisch und radikal gewesen war wie seine Dichtung, die ihm zu seiner Zeit Fatwas und Verbannung eingebracht hatte. Daraufhin schrieb ich „Bulha“, ein Stück über Bulleh Shahs Leben und Kampf. Bulha, wie ihn die Leute in ganz Südasien liebevoll nennen, stammte aus einer Tradition von Sufi-Dichtern aus Punjab, die mit ihrer Dichtung und Lebensweise die Autorität der Kaiser und der klerikalen Demagogen furchtlos infrage stellten. Sie schrieben in der Sprache des Volkes und über die Hoffnungen der Masse. Musik und Tanz boten ihnen die Mittel, eine direkte Verbindung zwischen Mensch und Gott herzustellen und dabei, sehr zu deren Leidwesen, die religiösen Mittelsmänner zu umgehen. Sie lehnten Geschlechts- und Klassenschranken ab und betrachteten unseren Planeten voller Staunen als eine Manifestation des Allmächtigen. Der Kunstrat von Lahore lehnte das Stück mit der Begründung ab, dass es kein Theaterstück sei, sondern bloß eine Biografie. Als das Stück allerdings an einem alternativen Spielort, nämlich im Goethe-Institut, aufgeführt wurde, erkannten, verstanden und mochten die Zuschauer*innen die Symbolhaftigkeit des Lebens und der Dichtung des volkstümlichen Poeten. Sie konnten sich mit seinem Leben und seiner Zeit vollständig identifizieren und erkannten sehr wohl die Parallelen zu ihrem eigenen Leben und ihrer Zeit.

An jenem Tag wurde 2001 eine neue Art von Theater geboren. Fromme Qawwali-Musik(4), Sufi-Dhamal-Tänze(5) und erbauliche Gedichtrezitation, ja sogar meditativer Zikir-Gesang(6) wurden Bestandteile des Stücks. Ein paar Sikhs(7) waren an jenem Tag wegen einer punjabischen Konferenz in der Stadt, sie kamen vorbei, wollten das Stück sehen, und am Ende liefen sie auf die Bühne und umarmten und küssten weinend die Schauspieler*innen.

Zum ersten Mal seit der Teilung Indiens(8), bei der Punjab 1947 entlang von Konfessionslinien geteilt wurde, standen sie mit muslimischen Punjabis auf der Bühne. Bulleh Shah war ihnen genauso wichtig wie den muslimischen Punjabis; denn Sufis überschreiten religiöse und Konfessionsgrenzen.

Nach dieser denkwürdigen Premiere folgte Bulleh Shahs Odyssee durch Indien. Angefangen mit einer bahnbrechenden Tour durch den indischen Teil Punjabs wurde „Bulha“ an jedem Fleck der indischen Landkarte aufgeführt, selbst in Zeiten größter Spannungen zwischen den beiden Ländern und an Orten, an denen das Publikum kein Wort Punjabi verstand, aber dennoch jede Sekunde der Inszenierung genoss. Die Türen für politischen Dialog und Diplomatie schlugen eine nach der anderen zu, aber die Pforten der Theater und zum Herzen der indischen Öffentlichkeit blieben weit offen. Während der Ajoka-Tour durch den indischen Bundesstaat Punjab 2004 kam, nach der Vorstellung vor einem sehr wohlwollenden, vieltausendköpfigen, ländlichen Publikum, ein alter Mann zum Darsteller des großen Sufi. Der alte Mann war in Begleitung eines Jungen. „Meinem Enkel geht es sehr schlecht; würdest du ihm wohl einen Segen aufblasen.“ Der Schauspieler war verwirrt und sagte: „Babaji (9), ich bin nicht Bulleh Shah, ich spiele diese Rolle doch nur.“ Der alte Mann brach in Tränen aus und sagte: „Bitte segne meinen Enkel, ich bin sicher, er wird dann genesen.“ Wir rieten dem Schauspieler, dem alten Mann seinen Wunsch doch zu erfüllen. Dieser blies dem Jungen einen Segen auf. Der Alte war glücklich. Bevor er ging, sagte er noch: „Mein Sohn, du bist kein Schauspieler, du bist die Reinkarnation von Bulleh Shah, sein Avatar(10).“ Da ging uns plötzlich ein ganz neues Verständnis von Schauspielen, von Theater auf, bei dem Schauspieler*innen die Reinkarnationen ihrer Figuren werden.

In den 18 Jahren, in denen wir mit „Bulha“ auf Tour waren, fielen uns ähnliche Reaktionen scheinbar unerfahrener Zuschauer*innen auf, für die die Vorstellung nicht bloß Unterhaltung oder intellektuelle Anregung ist, sondern eine spirituelle Begegnung, die an die Seele rührt. Den Schauspieler, der die Rolle von Bulleh Shahs Sufi-Meister spielte, hat diese Erfahrung derart nachdrücklich beeinflusst, dass er selbst ein Sufi-Dichter wurde und seitdem zwei Gedichtbände veröffentlicht hat. Die Schauspieler*innen in der Inszenierung berichten, dass sie zu Beginn der Vorstellung den Geist von Bulleh Shah in ihrer Mitte spüren und dass die Bühne wie auf eine höhere Ebene erhoben ist. Ein indischer Gelehrter schrieb über das Stück unter dem Titel „Wenn Theater zum Schrein wird“.

Ich bin ein säkularer Mensch, mein Interesse am Sufismus ist vorwiegend kultureller Art. Mich interessieren die darstellerischen und künstlerischen Aspekte punjabischer Sufi-Dichter mehr als mein Publikum, das nicht aus Extremist*innen oder Heuchler*innen besteht, sondern aus Menschen mit aufrichtigen, religiösen Überzeugungen. Mit der Erforschung von Geschichten wie der von Bulleh Shah – und davon gibt es in allen Kulturen so viele – können wir Brücken zwischen uns Theatermacher*innen und einem unerfahrenen, aber enthusiastischen Publikum bauen. Gemeinsam können wir die spirituellen Dimensionen des Theaters entdecken und Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlagen, die in eine Zukunft führen, die sich alle Gruppen wünschen: Gläubige und Nichtgläubige, Schauspieler*innen und alte Männer und deren Enkel.

Ich berichte über die Geschichte von Bulleh Shah und unserer Arbeit mit so etwas wie einem Sufi-Theater, weil wir, wenn wir auf der Bühne stehen, uns manchmal von unserem Konzept von Theater mitreißen lassen, von unserer Rolle als Vorboten sozialen Wandels, und dabei einen großen Teil der Menschenabhängen. Bei allem Engagement für die Herausforderungen der Gegenwart berauben wir uns der Möglichkeiten einer zutiefst bewegenden, spirituellen Erfahrung, die Theater bieten kann. In einer Welt, in der Heuchelei, Hass und Gewalt wieder auf dem Vormarsch sind, stehen Nationen wieder gegen Nationen, bekämpfen Gläubige andere Gläubige und eine Gruppe schleudert ihren Hass gegen die andere ... während Kinder an Unterernährung sterben, Mütter mangels rechtzeitiger medizinischer Versorgung bei der Geburt sterben und Ideologien des Hasses in voller Blüte stehen. Unser Planet stürzt immer tiefer in eine Klimakatastrophe, und der Hufschlag der vier apokalyptischen Reiter ist bereits zu vernehmen (11). Wir müssen unsere spirituelle Kraft wieder auffrischen; wir müssen gegen die Gleichgültigkeit, Lethargie, den Pessimismus, die Gier und Rücksichtslosigkeit gegenüber unserer Welt und unserem Planeten ankämpfen. Theater spielt eine Rolle, eine edle Rolle, indem es die Menschheit stärkt und antreibt, sich aus dem Abgrund, in den sie sinkt, zu erheben. Es vermag die Bühne und den Spielort zu etwas Heiligem zu machen.

In Südasien berühren Künstler*innen ehrfürchtig den Bühnenboden, ehe sie ihn betreten, eine uralte Tradition aus Zeiten, als das Spirituelle und das Kulturelle noch eng verbunden waren. Es wird Zeit, diese symbiotische Beziehung zwischen Künstler*innen und Publikum, zwischen Vergangenheit und Zukunft zurückzugewinnen. Theatermachen kann eine heilige Kunst sein, und die Schauspieler*innen können sehr wohl die Avatare der Rollen werden, die sie spielen. Theater erhebt die Schauspielkunst auf eine höhere, spirituelle Ebene. Theater vermag ein Schrein zu werden, und der Schrein ein Theaterraum.

Shahid Nadeem, Pakistan 2020

Übersetzung vom englischen Original ins Deutsche: Henning Bochert

(1) Madeeha Gauhar (1956-2018): Theaterregisseurin, Schauspielerin, Feministin und Gründerin des Ajoka-Theaters, Master-Abschluss in Theater vom Royal Holloway College, London, und Trägerin der Medal of Distinction der pakistanischen Regierung und des Prinz-Claus-Preises der Niederlande.

(2) Sufismus: mystische Tradition des Islam, die die wahre göttliche Liebe durch unmittelbares persönliches Erleben von Gott zu finden sucht, wurde durch ihr Predigen universeller Bruderschaft und ihre Opposition gegen strenge, doktrinäre Einhaltung religiöser Lehren beliebt. Sufi-Dichtung, meist musikalisch wiedergegeben, drückt die mystische Vereinigung durch Metaphern irdischer Liebe aus.

(3) Bulleh Shah (1680-1757): Einflussreicher punjabischer Sufi-Dichter, der in einfacher Sprache über komplexe philosophische Themen schrieb, war ein starker Kritiker religiöser Orthodoxie und der Eliteherrschaft, wurde aus der Stadt Kasur verbannt, der Ketzerei beschuldigt, ein Begräbnis auf dem städtischen Friedhof blieb ihm verwehrt. Beliebt bei frommen und volkstümlichen Sängern. Bewundert über Konfessionsgrenzen hinweg.

(4) Qawwali: Fromme Sufi-Dichtung, die von mehreren Sängern dargeboten wird (Qawwals), ursprünglich vor Sufi-Schreinen dargeboten, bringt die Zuhörer*innen in einen Trancezustand.

(5) Dhammal: Ekstatischer Tanz an Sufi-Schreinen, gewöhnlich zu Trommeln.

(6) Zikir: Frommer, rhythmischer Gesang, gesungenes Gebet, führt zu spiritueller Erleuchtung.

(7) Sikhs: Angehörige des Sikh-Glaubens, begründet von Guru Nanak im 15. Jahrhundert in Punjab.

(8) 1947 wurde der islamische Staat Pakistan inmitten enormer Blutbäder zwischen den Glaubensrichtungen und massiver Bevölkerungsumsiedlung von Indien abgetrennt.

(9) Babaji: respektvolle Bezeichnung für einen älteren Mann.

(10) Avatar: in der Hindu-Kultur Reinkarnation oder Manifestation eines göttlichen Lehrers auf Erden.

(11) Die vier Reiter der Apokalypse beschreibt Johannes von Patmos in seinem Buch der Offenbarung, dem letzten Buch des Neuen Testaments. Die vier Reiter werden zumeist als Symbole für Eroberung, Krieg, Hungersnot und Tod dargestellt.