DIE VIELEN Hambu
rg fordern:

DIE VIELEN Hamburg fordern, ein Jahr nach dem 75. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Faschismus und der Beendigung des Zweiten Weltkrieges: Der 8. Mai muss Feiertag werden! Ein Erinnerungs- und Gedenktag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde in diesem Land Kunst als entartet diffamiert und Kultur flächendeckend zu Propagandazwecken missbraucht. Millionen Menschen wurden ermordet oder gingen ins Exil, unter ihnen auch viele Kunstschaffende. Als Kulturschaffende in Deutschland tragen wir deshalb eine besondere Verantwortung, uns für die Freiheit und Offenheit von Kunst und Kultur einzusetzen.
Kunst- und Kultureinrichtungen begreifen wir als offene Räume, die vor Instrumentalisierung und politischem Einfluss geschützt werden müssen. Kunst und Kultur sind ein Spiegel der Gesellschaft, sie dokumentieren, prägen und gestalten das Zeitgeschehen.
Vor diesem Hintergrund unterstützen DIE VIELEN Hamburg den Aufruf von Esther Bejarano, Überlebende der KZ Auschwitz und Ravensbrück am 27. Januar 2020:

„Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin und alle, die wollen, dass Auschwitz nie wieder sei!

Wo stehen wir – dieses Land, diese Gesellschaft – 75 Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee?
Plötzlich gab es keine Nazis mehr, damals, 1945 – alle waren verschwunden. Uns aber hat Auschwitz nicht verlassen. Die Gesichter der Todgeweihten, die in die Gaskammern getrieben wurden, die Gerüche blieben, die Bilder, immer den Tod vor Augen, die Albträume in den Nächten.
Wir haben das große Schweigen nach 1945 erlebt – und wie das Unrecht – das mörderische NS-Unrecht – so akzeptiert wurde. Dann erlebten wir, wie Nazi-Verbrecher davonkommen konnten – als Richter, Lehrer, Beamte im Staatsapparat und in der Regierung Adenauer.

Wir lernten schnell: die Nazis waren gar nicht weg.
Die Menschen trauerten um Verlorenes: um geliebte Menschen, um geliebte Orte. Wer aber dachte über die Ursachen dieser Verluste nach, fragte, warum Häuser, Städte, ganze Landstriche verwüstet und zerstört waren, überall in Europa? Wen machten sie verantwortlich für Hunger, Not
und Tod?
Dann brach die Eiszeit herein, der Kalte Krieg, der Antikommunismus. Es war ein langer Weg vom kollektiven Beschweigen bis zum Eichmann-Prozess in Jerusalem über die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main zu den Studentenprotesten in den 1968ern hin zur Fernsehserie “Holocaust”
ab 1979. Nur zögerlich entwickelte sich das Bewusstsein, die Wahrnehmung des NS-Unrechts. Aber auch die Rechten, die Alt- und Neonazis und Auschwitzleugner formierten sich.
Inzwischen wird vom Erinnern und Gedenken als einer Gedenkkultur gesprochen. Wir spüren, wie tief viele Menschen bewegt sind, manche haben sich das “Nie wieder” zur Lebensaufgabe gemacht. Sonntagsreden, die Betroffenheit zeigen, reichen aber nicht. Diese Betroffenheit muss zum Handeln führen, es muss gefragt werden, wie es so weit hat kommen können. Es muss gestritten werden für eine andere, bessere Gesellschaft ohne Diskriminierung, Verfolgung, Antisemitismus, Antiziganismus, ohne Ausländerhass! Nicht nur an Gedenktagen!

Sie, Frau Bundeskanzlerin Merkel haben am 6. Dezember 2019 in der Gedenkstätte KZ Auschwitz-Birkenau gesagt: “Umso klarer und deutlicher müssen wir bekunden: Wir dulden keinen Antisemitismus. […] Alle Menschen müssen sich bei uns in Deutschland, in Europa, sicher und zu Hause fühlen. […] Einen Schlussstrich kann es nicht geben – und auch keine Relativierung.” Diese Aufgabe ist noch nicht erledigt! Und ich füge hinzu: Das sind wir den Millionen Opfern der faschistischen Verbrechen schuldig!
Es ist für uns Überlebende unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren. Wir wollen uns nicht gewöhnen an Meldungen über antisemitische, rassistische und menschenfeindliche Attacken in Berlin und anderswo, in Halle, wo nur stabile Türen die jüdische Gemeinde schützten, aber zwei Menschen ermordet wurden.
Was können wir tun?
Ich will, dass wir alle aufstehen, wenn Jüdinnen und Juden, wenn Roma oder Sinti, wenn Geflüchtete, wenn Menschen rassistisch beleidigt oder angegriffen werden!
Ich will, dass ein lautes “Nein” gesagt wird zu Kriegen, zum Waffenhandel.
Wer den letzten Krieg vergisst, der bereitet schon den nächsten vor.
Ich will, dass wir gegen die Ausbeutung der Menschen und unseres Planeten kämpfen, Hilfesuchende solidarisch unterstützen und Geflüchtete aus Seenot retten. Eine Gesellschaft muss sich messen lassen an ihrem Umgang mit den Schwächsten.
Ich fordere entschlossenes Handeln gegen das Treiben der Neonazis, denn trotz Grundgesetz und alledem konnten Abgeordnete einer neurechten Partei vom NS als “Vogelschiss in deutscher Geschichte” und vom Holocaust-Gedenkort in Berlin als “Denkmal der Schande” sprechen, konnte der NSU ein Jahrzehnt lang ungestört morden und die Neonazi-Gruppe “Combat 18” frei agieren.
Ich fordere, dass die Diffamierung von Menschen und Organisationen aufhört, die entschlossen gegen rechts handeln. Was ist gemeinnütziger als Antifaschismus? Es ist auch unerträglich, wenn ein paar Antifa-Aufkleber in Schulen Anlass für Denunziationen über Petzportale von neurechten Parteien sind. Niemand sollte für antifaschistisches Handeln, für gemeinsame Aktionen gegen den Hass, gegen alte und neue Nazis diskreditiert und verfolgt werden!

Ich fordere: Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten. Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes. Wie viele andere aus den Konzentrationslagern wurde auch ich auf den Todesmarsch getrieben. Erst Anfang Mai wurden wir von amerikanischen und russischen Soldaten befreit. Am 8. Mai wäre dann Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit.
Und dann können wir, dann kann ein Bundespräsident vielleicht irgendwann sagen: Wir haben aus der Geschichte gelernt. Die Deutschen haben die entscheidende Lektion gelernt.


Mit freundlichen Grüßen
Esther Bejarano
(Vorsitzende)
Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik Deutschland e.V.“


Solidarität statt Privilegien. Es geht um Alle. Die Kunst bleibt frei!

 

Hamburg, 16. April 2021